Dominik Ešegović

Deutschland 2030

Ein Tag im Leben des Thomas W.: Nach dem langen Winter

Siegerbeitrag zum ef-Jungautorenwettbewerb 2015


von Dominik Ešegović


Der Kirschbaum, der fast bis an den Balkon von Thomas W.s neuer Eigentumswohnung reicht, treibt die ersten weißen Blüten. Es ist Frühling. Oder genauer: der 31. März 2030. Der Frühling kam spät in diesem Jahr. Der Winter war ungewöhnlich hart und erinnerte an den langen, schrecklichen Winter 2020/21.


„Wollt ihr denn nicht lieber draußen spielen?“, ruft Thomas W. seinen Kindern eher fordernd als fragend in eines der Kinderzimmer. Die beiden Jungs spielen mit ihrer älteren Schwester ein neues Rollenspiel, das der Jüngste neulich zum Geburtstag geschenkt bekam. „Wir spielen Räuber und Sicherheitsmann, Papa!“ tönt es aus dem Raum, der schon seit Tagen kein reines Lernzimmer mehr ist. „Ich habe euch doch schon mal gebeten, leiser zu sein. Die Isolationstapete ist noch nicht repariert worden. Ich würde es wirklich sehr begrüßen, wenn ihr auch mal draußen ein wenig rumtobt!“ – „Ach, Papa, wir haben doch Freitage!“ sagt der jüngste Sproß, „und außerdem sind wir auch ganz leise“, wirft der ältere Bruder ein. „Nix da. Ein bisschen Natur tut euch mal ganz gut. Zieht bitte eure Schutzwesten an. Und Gerrit: Vergiss diesmal bitte deine Uhr nicht! Deine Geschwister mögen es nicht, wenn du für Anrufe immer deren Uhren benutzt!“


Thomas W. lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Castrop-Rauxel. Die Fünf-Millionen-Stadt gehört zu den Metropolen einer Region, die früher „Deutschland“ hieß. Städte wie Berlin, Hamburg, München oder Düsseldorf sind von der Landkarte verschwunden. Im Krieg, an den sich die Menschen, wenn überhaupt, dann nur als „der lange Winter“ erinnern, sind einige Städte komplett vernichtet worden. Nichts erinnert mehr an sie. Ein Investor hat einen Abschnitt einer Ultraschnellstraße, die nach Hamm führt, aus einem sonderlichen Grund „Kölner Straße“ genannt. Thomas lässt sich von seinem Auto gerne in die fast menschenleeren Städte des Ruhrgebiets fahren. Man hat zwischenzeitlich die Radioaktivität beseitigt, und vor allem ältere Menschen sind in ihre alten Viertel in Bochum und Dortmund zurückgekehrt. In diesen wie in anderen Städten steht noch alles wie früher; die Gebäude, die Straßen. Sogar alte Autos stehen mancherorts noch herum. Denkmäler der Zeit vor dem langen Winter.


„Wie seht ihr denn aus? Sagt mal, habt ihr euch im Dreck gesudelt?“, ruft Thomas seinen Kindern entgegen, die von ihrem kleinen Ausflug wieder nach Hause gekommen sind. „Wir, wir haben nur unser neues Spiel gespielt“, sagt der Kleinste und strahlt seinem Vater freudig entgegen. „Oh ja, ich war Räuber“, ruft die Schwester, „und ich war auch Räuber und Sicherheitsmann“ fügt der Größere der Brüder hinzu. „Na, ihr hattet ja euren Spaß. Nun aber ab ins Badezimmer, Jacken abwaschen und Konsolebrillen aufräumen! Mutti kommt jede Minute nach Hause.“


An der Tür klingelt es. Zunächst einmal verwundert über die doch sehr rasche Ankunft seiner Frau, richtet Thomas nochmal einen korrigierenden Blick in den Spiegel. Doch die Melodie verrät schnell, dass es sich nicht um seine Frau handelt. „Guten Tag, Sie haben Post, Herr W. Bitte einmal hier rüberstreichen.“ – „Das ist aber ein großes Paket“, bemerkt Thomas überrascht – „dabei habe ich doch gar nichts bestellt“. „Ach“, seufzt er, „ich stelle das Riesenpaket mal lieber in den Abstellraum, bevor Olga nach Hause kommt“. Auf seinem Messenger erscheint die Nachricht: „Schatz, heute leider wieder Überstunden. Abendessen ohne mich.“


Thomas‘ Frau Olga arbeitet bei Amazon. Sie ist Programmiererin und an der Entwicklung von Bestell-Drohnen beteiligt. Seit Wochen arbeitet sie schon, aufgrund des Kräftemangels, stellenweise im Vertrieb und in der Marketingabteilung mit. Hergestellt werden die Geräte in Großbritannien – aus Kostengründen. Osteuropäische Standorte wurden in der letzten Zeit zu teuer. Weil vor allem China, das sich seit etwa zehn Jahren dem Weltmarkt verschlossen hat, erste Anzeichen der Öffnung zeigt, läuft die Drohnenproduktion auf Hochtouren. Amazon hat die Zeichen der Zeit erkannt und damit begonnen, massiv in die hauseigene Technologie zu investieren. Entwickler sind gerade damit beschäftigt, den konventionellen Antrieb der Drohnen auf Magnetwellen umzustellen. Nicht nur würden die Drohnen damit deutlich schneller und wendiger, sie würden auch um einiges leichter und sparsamer, da die Batterie wegfiele. Die neuen Drohnen würden sich künftig drahtlos und durch die jeweils unterschiedliche Polarisation sogar gegenseitig aufladen können. Das Unternehmen verspricht sich von der neuen Technologie eine mögliche Umsatzsteigerung von mehreren Tausend Prozent. Allerdings bereitet die Umsetzung noch Kopfzerbrechen. Bei ersten Tests der neuartigen Geräte kam es zu ernsthaften Zwischenfällen. Berichte von „Killer-Drohnen“ machten die Runde.


„Meine Damen und Herren, vergessen Sie alles, was Sie glauben über die Drohne zu wissen“, beginnt Olga ihren Vortrag mit fast flatternder Stimme. Es ist ihre erste große Rede vor Journalisten und interessierten Laien und Fachleuten. „Amazon hat die Drohne“, sagt sie und schiebt sich ihre Brille zurecht, die ihr den Text vorgibt, „nicht einfach weiterentwickelt – Amazon hat die Drohne neu erfunden“. Das sichtliche Interesse des Publikums steigt mit jedem Wort, das aus Olgas Mund kommt. Und mit jedem gesprochenen Satz steigt auch das Gefühl in Olgas Worten, das die interessierten Zuhörer zunehmend einhüllt. „Stellen Sie sich vor, Sie bestellen sich ein Paar Schuhe, während Sie in der Küche einen Apfel essen. Und noch ehe Sie mit den letzten Bissen Ihren Apfel verspeist haben, erwarten Sie Ihre gewünschten Schuhe auf dem Balkon oder vor Ihrer Haustüre. Sie können sich während Ihres Bades Badesalz wünschen und wir liefern es Ihnen, noch ehe Ihr Bad vollgelaufen ist. Wenn Sie mögen, wird Ihre Bestellung direkt vor Ihre Badewanne abgestellt. Voraussetzung ist jedoch, dass Sie Ihre Türen offen halten.“ Heiteres Gelächter im Saal.


Thomas arbeitet als Selbständiger. Doch im Gegensatz zu seiner Frau arbeitet er weit weniger und dazu von zu Hause aus. Er ist als psychologischer Berater tätig. Eigentlich hat er mal etwas ganz anderes gelernt und wollte selbst einst in die Industrie oder einfach in die freie Wirtschaft. Doch der „lange Winter“ warf seine Pläne über den Haufen. Er hat seine Frau Olga damals in einem Flüchtlingslager kennengelernt. Sie kam aus dem „Osten“, und er stammt ursprünglich aus Bayern. Wäre Thomas damals Olga nicht begegnet, wer weiß, was passiert wäre. Sie und die gemeinsamen Kinder haben Thomas wieder Kraft gegeben. Seinen neuen Lebenswillen will er nun weitergeben, an alle, die nicht so viel Glück hatten wie er. Besonders wichtig ist es ihm, auch für seine Kinder da zu sein. Er arbeitet nur wenige Stunden am Tag und verbringt viel Zeit mit ihnen. Was man früher „Homeschooling“ nannte, läuft im Hause W. nach einem festen, mit den Kindern verabredeten Stundenplan ab. Ferien, „Freitage“ genannt, können sich die Kinder selbst einteilen. Besonderen Wert legt Thomas bei aller Lernfreiheit auf die ethische Erziehung seines Nachwuchses. „Ethik“, so hat er einmal seinen Kindern erklärt, „ist die Lehre vom Handeln gemäß der Unterscheidung von gut und böse“. Und „Böses“ dürfe es nie wieder geben.


„Papi, was ist ein ‚Renotseross‘?“ fragt der kleinste Spross, der gerade mal so über den Tisch schauen kann, an dem alle, zu einer Lerneinheit versammelt, sitzen. „Ooch, Gerrit! Wir machen gerade Po-li-tik!“ faucht sein Bruder, der mit seiner Nase immer wieder gegen sein Tablet stößt. „Schon gut“, beruhigt ihn Thomas. „Schau her, Gerrit: Das ist ein ‚Rhinozeros‘“, sagt er, während er seinem Sohn ein Bild des Tieres auf seinen kleinen Tablet-Computer hochlädt. „Also eigentlich nehmen wir nicht das Thema ‚Politik‘ durch. Aber Sofia hat gefragt, was eine ‚Partei‘ sei“, erklärt Thomas. „Und was ist nun eine ‚Partei‘?“ fragt die fast Neunjährige ungeduldig. „Also“, führt Thomas aus, „eine ‚Partei‘ ist in manchen Regionen der Erde eine Gruppe von Menschen, die ...“ – „Auch bei uns?“, wirft der ältere Bruder ein. „Nein, bei uns gibt’s das nicht mehr“, antwortet Thomas seinem Sohn und wird dabei etwas lauter. „Also“, fährt er fort, „bei uns gibt es keine Parteien, weil wir keine Parteien brauchen.“ – „Wieso gibt es bei uns keine Parteien?“, fragt Sofia und lehnt sich dabei mit großen Augen nach vorn. „Weil wir festgestellt haben, dass Parteien schlecht sind!“ antwortet Thomas, nun sichtlich darum bemüht, seine Stimme nicht übermäßig zu heben. Als Thomas noch einmal tief durchatmet und zu einem neuen Erklärungsansatz ausholt, da erheben sich die Kinder wie auf Kommando vom Tisch. „Mami, Mami!“ tönt der Chor und rennt auf die Mutter zu, die es gerade noch schafft, ihre Handtasche sanft abzulegen, bevor sie von der eigenen Kinderschar umschlungen wird. „Hey, langsam ihr Süßen. Mami hat heute mal früher Feierabend.“


Nach dem gemeinsamen Abendessen steht Thomas am Balkon. Der Sonnenuntergang erscheint heute in einem noch grelleren Rot als sonst. Seine Frau gesellt sich zu ihm. Sie sei müde, doch überglücklich, dass ihre Präsentation so erfolgreich verlaufen sei. Sie lege sich schon mal hin. Thomas blickt in die Ferne und lässt seinen Tag Revue passieren. Er ist zufrieden. Doch es überkommt ihn ein melancholisches Gefühl, das er so schon lange nicht mehr verspürt hat. Thomas versinkt in Gedanken. Er erinnert sich an früher, an die Zeit davor. Ab und zu spürt er noch diesen Stein im Magen – dieses Gefühl der Wut, wofür er keine Ursache zu erkennen vermag. Heute am Tisch mit den Kindern, da hatte er es schon wieder.  Doch es war nicht das Thema „Politik“ oder „Parteien“, das ihn so aufwühlte. Eigentlich, obwohl das in diesen Tagen absurd klingt, ist Thomas ein politisch interessierter Mensch. Er befasst sich noch heute recht viel mit der Politik, die vor knapp einem Jahrzehnt praktisch aufgehört hat zu existieren. Thomas wird bewusst, dass ihn jene Politik immer noch fesselt, die er früher selbst versucht hat zu bekämpfen. Ratlos über die eigene Widersprüchlichkeit, trottet er nachdenklich durch seine Wohnung. Ein Glas Rotwein könnte nun zur Hebung seiner Stimmung beitragen. Er geht in den Abstellraum, in dem er noch eine Flasche vermutet. Seine Blicke streifen durch den Raum. Das Paket mit seinem unbekannten Inhalt, das er heute erhalten hat, springt ihm ins Auge. Eine Ladung Bordeaux oder Cabernet Sauvignon würde ihn jetzt nicht unglücklich machen. Thomas öffnet das schwere Paket und staunt nicht schlecht. Gut 200 Exemplare einer Zeitschrift, die seit gut zehn Jahren nicht mehr verlegt wird und für die er früher selbst ein paar Mal zur Feder gegriffen hat. Mit feuchten Händen greift er nach den Heften, deren vereinzelte Artikel auch seinen Namen tragen. Beim Herausheben des oberen Stapels kommt ein gelbes Stück Papier zum Vorschein. Bevor er den ersten Satz auf dem Papier gelesen hat, vermag er der Handschrift bereits die Urheberschaft zu entnehmen:


„Mein lieber Thomas W., Erinnerungen an Zeiten, als man noch mit Tinte auf Papier schrieb und so naiv war zu glauben, man könne mit bedrucktem Papier die Gesellschaft verändern. Dein André L.“


Porträt Fabian Hartje

Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der Mai-Ausgabe 2015 eigentümlich frei Nr.152.