Janine Steinmann

Ich in 25 Jahren: Meine ökonomische Zukunftsperspektive

Es war nur ein Traum

Siegerbeitrag zum ef-Jungautorenwettbewerb 2021


von Janine Steinmann


Hinter der zersplitterten Glasscheibe unserer Haustür zeichnet sich eine dunkle Silhouette ab. Kurz darauf öffnet sich die Tür mit einem lauten Knarren: Micha ist zurückgekehrt. Endlich! „Mehr habe ich leider nicht auftreiben können.“ Er setzt sich und zeigt uns seine Ausbeute: ein paar mickrige Karotten, Kartoffeln und ein Brot. Wir stürzen uns darauf wie die Tiere. „Die Nachbarkommune hat mit einem starken Schädlingsbefall zu kämpfen“, lässt Micha uns wissen. „Und auch bei denen zwei Hügel weiter sieht’s nicht so gut aus. Borkenkäfer.“ Er macht ein betroffenes Gesicht. „Wie viele Kaninchen hast du dafür hergeben müssen?“, fragt Luise. Sie und ich hatten es nicht übers Herz gebracht, die süßen Tierchen, die unsere Gruppe großgezogen hatte, selbst zu essen. Am liebsten hätten wir sie behalten, aber schlussendlich siegte der Hunger, und so willigten wir in Michas Angebot ein, der versuchen wollte, die Kaninchen gegen etwas anderes einzutauschen. „Drei. Scheinbar gibt‘s zurzeit viele, die Kaninchen züchten. Und durch die Schädlinge beim Gemüse …“ – „Verdammt, wir haben so viel Arbeit in die Viecher gesteckt!“ Das war Thomas. „Marx würde sich im Grab umdrehen, wenn er das hören könnte. Da haben wir es endlich geschafft, den Kapitalismus zu überwinden, und nun das? Wir tauschen nicht nach dem Arbeitswert, sondern nach Angebot und Nachfrage!“ Er schüttelt den Kopf, und ich beiße die Zähne zusammen. Zu oft habe ich diese Diskussion schon geführt, aber es ist vergeblich. „Ich muss mal kurz raus“, sage ich und stehe auf. „Pass auf, dass du rechtzeitig zurückkommst!“, warnt mich Luise. „Hab‘ letztens von Pablo gehört, dass eine seiner Partner*innen nach Sonnenuntergang noch unterwegs war und sich dann im Wald verlaufen hat!“ Manchmal raubt mir Luise echt den letzten Nerv. 


Draußen weht ein angenehmer Wind. Wie so oft zieht es mich in Richtung der alten Ruinen, zu der Kleinstadt, in der ich meine Kindheit und Jugend verbringen durfte. „ACAB, Refugees welcome, Capitalism kills“ – die Graffitis sind immer noch dieselben, nur wird es immer schwieriger, sie an den verwitterten, teilweise von Moos bewachsenen Häuserwänden zu entziffern. Ansonsten hat sich hier seit Jahren nichts geändert, wie auch? In einer Geisterstadt passiert nicht viel. Ich kremple meine abgewetzten Hosenbeine hoch, um durch den knietiefen Bach zu waten. Die Brücke ist schon seit Jahren unbenutzbar. Während ich das kühle Wasser an meinen Füßen spüre, denke ich an meine Kindheit zurück, in der ich hier am Bach mit meinen Freundinnen nach Fröschen Ausschau gehalten habe. Heute sehe ich nur leere Chipstüten und anderen Plastikmüll am Ufer, Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit, in der es noch Supermärkte mit prall gefüllten Regalen gab. Bei diesem Gedanken knurrt mein Magen, das bisschen Gemüse und Brot hat meinen Hunger nicht annähernd stillen können. Ich werde wohl auf dem Rückweg nach Obstbäumen oder Beerensträuchern Ausschau halten müssen. 


An meinem Elternhaus angekommen, setze ich mich auf einen Stein und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Ich denke an die Zeit vor 20, nein, mittlerweile sogar 25 Jahren zurück. Ich war jung, hatte endlich meinen Abschluss in der Tasche und eine aussichtreiche Zukunft vor mir. Klar, die Konflikte, die spätestens seit 2015 mehr als offensichtlich waren, hatte ich mitbekommen. Doch dass es einmal so weit kommen könnte … 


Nein, das wäre mir im Traum nicht eingefallen. Die politischen Maßnahmen während der Corona-Krise hatten zu einer noch höheren Verschuldung von Staat, Unternehmen und Privathaushalten geführt, als es ohnehin schon der Fall war. Um den Bankrott abzuwenden, wurde die Geldmenge so stark wie nie zuvor in der Geschichte des Euro ausgeweitet, was die Preise ordentlich in die Höhe trieb. Viele, deren Lebensstandard dadurch sank oder die sowieso schon durch die Corona-Maßnahmen erhebliche Einbußen erleiden mussten, sehnten sich mehr und mehr nach einem noch stärker ausgebauten Sozialstaat. So kam es nicht überraschend, dass in der darauffolgenden Bundestagswahl die sozialistischen Parteien weit vorn lagen – und damit ging es noch mal richtig bergab. Die Staatsausgaben stiegen, die Steuern ebenso, und mit dem neu eingeführten bedingungslosen Grundeinkommen wurde der Traum eines jeden Richard-David-Precht-Fans wahr. Die Leistungsträger verließen das Land in Scharen. Der Rest lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Hyperinflation. Mangel. Verzweiflung. Randale. Plünderungen. Dieser unfassbare Hunger, dem viele zum Opfer fielen. Hunger, Hunger, Hunger. Kompletter Zusammenbruch des Systems. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. 


Hier sind wir nun, im Jahr 2045. Wir leben in kleinen Gruppen auf dem Land und versuchen, uns als Selbstversorger durchzuschlagen. Das klappt mehr schlecht als recht, unsere Kommune lebt von der Hand in den Mund, Mangel ist Dauerzustand. 


Woran das liegt? Der Antikapitalismus sitzt immer noch tief in den Köpfen der Menschen. Niemand will sich eingestehen, dass es sozialistische Politik war, die uns alles genommen hat. Es ist viel bequemer, immer noch auf den ach so bösen Turbokapitalismus zu schimpfen, der uns vor vielen Jahren mit seinem Finanzsystem in die Armut gestürzt hat – „trotz der ganzen Bemühungen von Linken, Grünen und SPD“, wie Luise gerne betont, anstatt die Realität anzuerkennen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und die Opferrolle zu verlassen. Und so wird alles, was nur im Entferntesten an Kapitalismus erinnert, abgelehnt. Innerhalb der Kommunen gibt es bis auf ein paar persönliche Erinnerungsstücke kein Privateigentum. Alle anderen Konsumgüter und alle Produktionsmittel gelten als Gemeinschaftseigentum der jeweiligen Gruppe, unabhängig davon, wer die meiste Arbeit in deren Herstellung investiert hat. Zwischen den Kommunen gibt es zwar Tauschhandel, aber auch viel Misstrauen – immerhin sind schon die einen oder anderen Salatköpfe aus den Beeten und ist so manches Hühnchen aus seinem Nest verschwunden. Die ganze Situation macht mich so wütend. Was könnten wir erreichen, wenn wir es nur wollten! Stattdessen scheine ich dazu verdammt zu sein, in einer Bruchbude zu hausen, mir ständig Thomas‘ Marxvorträge und Luises genderneutrale Sprache anzuhören und jeden Winter erneut um mein Überleben zu bangen. Der Ärger treibt mir die Tränen in die Augen, und ich kann nicht anders, als meinen Frust an einem unschuldigen Busch zu entladen. Wie wild schlage ich auf ihn ein. 


„Autsch!“ Mit einem Mal werde ich wach und reiße die Augen auf. Etwas Hartes ist auf meinen Kopf gefallen. Es ist das Buch „Freie Privatstädte“ von Titus Gebel. „Wo bin ich?“, murmele ich noch leicht benommen vor mich hin, während ich mich im Zimmer umblicke. Ich befinde mich nicht vor einem zerfallenen Haus. Ich liege in einem weichen Bett, das in einem großen, hellen Zimmer mit moderner Einrichtung steht – direkt vor einem riesigen Bücherregal, gegen das ich wohl gerade gestoßen bin. Langsam dämmert es mir … Es war nur ein Traum! Wieder einmal bin ich unfassbar dankbar dafür, dass ich im Jahr 2024 gerade noch rechtzeitig aus Deutschland fliehen konnte. 


Ob mein Traum realistisch war? Ob es in Deutschland tatsächlich gerade so aussieht? Nach allem, was ich durch die Medien mitbekommen habe, kann das durchaus sein. So genau will ich es aber gar nicht wissen. Zu weh tut der Gedanke daran, was aus meiner Heimat geworden ist. Ich blicke lieber optimistisch in die Zukunft: Die freie Privatstadt, in der ich Zuflucht fand, war die zweite von mittlerweile zehn Städten weltweit. Und es werden immer mehr. Ob auch irgendwann in Deutschland die Freiheit siegt? Ich hoffe es sehr.


eigentümlich frei Ausgabe 215

Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der Aug./Sep.-Ausgabe 2021 eigentümlich frei Nr.215.