Alina Schippel

30 Jahre nach dem Mauerfall: Dissidententum heute

Für einen neuen Mauerfall: Raus aus dem Polit-Zirkus!

Siegerbeitrag zum ef-Jungautorenwettbewerb 2020


von Alina Schippel


Der Dissident – er ist ein Andersdenkender, ein Freigeist. Seine unbequemen Gedanken trägt er mutig in die Gesellschaft heraus; den Massen entgegengewandt, dem Staat ein Dorn im Auge, zieht er für Freiheit und Gerechtigkeit in den Kampf. Gewalt hält ihn nicht zurück, sie scheint seinen glühenden Willen nur noch mehr zu entflammen. Der Dissident ist kein Revolutionär, er ist Befreier und Reformer, der die Ketten des Kollektivismus zerschlagen will.


Historisch werden vor allem oppositionelle Künstler und Intellektuelle aus totalitären Staaten oder Diktaturen als Dissidenten bezeichnet... aber das sollte bestimmt keine Anspielung von eigentümlich frei auf den Zustand der deutschen Demokratie sein. Bei dem Titel „30 Jahre nach dem Mauerfall: Dissidententum heute“ würde man ja intuitiv fast denken, dass er einen Vergleich zwischen dem sozialistischen DDR-Regime und Deutschland heute provozieren will. Aber solche Parallelen zu suchen wäre doch viel zu polemisch... oder?


Man könnte jetzt natürlich recherchieren und erläutern, dass die Methoden des DDR-Regimes sich nicht allzu gravierend von denen der Regierung und der staatlichen Medien heute unterscheiden. Dies könnte man aufzeigen, indem man das Prinzip der Zersetzung anführt, das seit den 1970er Jahren vom Ministerium für Staatssicherheit als Alternative zu physischer Gewalt und Haftstrafen angewandt wurde, um international keine negative Reputation zu provozieren. Man könnte darstellen, dass die Funktionsweise der Zersetzung darin bestand, systemkritische Denker und Aktivisten auszuschalten, indem man Familie und Freundeskreis infiltrierte, um alltäglichen sozialen Druck zu schaffen, die Teilnahme der Zielpersonen am öffentlichen Leben beschränkte, Berufschancen eliminierte und jede Form von Alltag unterband, um die Oppositionellen einem so enormen Maß an Stress auszusetzen, dass sie für ihre politische Betätigung weder Energie noch Willen hatten. Daraufhin könnte man den überproportional hohen Aufwand betreiben, für einen hypothetisch-ironischen Essay-Absatz junge AfD-Mitglieder aufzusuchen, um die selbst aufgestellte Hypothese zu überprüfen. Daraufhin könnte es passieren, dass die aufgesuchten Gesprächspartner die Annahme bestätigen und von erheblichen Konflikten in Familie und Freundeskreis berichten, von Anfeindungen im Studium und auf der Arbeit, von der Unmöglichkeit, außerhalb des Parteiumfelds noch beruflich aktiv zu werden, und das alles seit ihrem Parteibeitritt. Ja, das könnte man tun.


Aber stattdessen sollte man sich doch lieber fragen: Selbst wenn man dies tun würde und Hypothese und Beobachtung übereinstimmen – ist es überhaupt sinnvoll, die eine politische Partei als letzte Bastion des Dissidententums zu sehen, als Schmelztiegel aller Facetten der Systemkritik, als Streiter für die Unterdrückten? Kann man den Führer der Opposition, einer Volkspartei, die wie die anderen auf Stimmfang geht, ebenso medial Propagandaarbeit leistet und ebenso gleichgültig gegenüber dem Gedankengut ihrer Wähler ist, überhaupt als systemkritisch sehen?


Mitnichten. Auch eine solche Partei bewegt sich in der Sphäre von schwarz und weiß, moralischer Überlegenheit und Feindbild, die unsere Form der Demokratie so gefährlich macht. Das Desinteresse an politischen Inhalten von Seiten der Parteien, diese Wankelmütigkeit und Prinzipienlosigkeit, rührt daher, dass auf der einen Seite nur dann die Fähigkeit, etwas nach eigenen Vorstellungen zu ändern, erworben werden kann, wenn genug ideologische Flexibilität besteht, um Macht zu akquirieren. Auf der anderen Seite sind reale politische Inhalte nicht nötig, um Menschenmassen zu mobilisieren, deren Willensbildungsprozess aus zwei Wochen Fernseh- und Print-Konsum vor jeder anstehenden Wahl besteht und die Parteien und Parteiprogramme nach deren Repräsentanten beurteilen, weil ihnen das Interesse an jeder tiefergehenden Diskussion fehlt.


In solch einem System kann nicht für Freiheit und Individualismus gekämpft werden, wenn man Teilnehmer oder Veranstalter dieses Zirkus ist. Das Publikum mag unterschiedlich laut für Löwe und Elefant klatschen, die vorgeführten Kunststücke mögen auch variieren, aber sie bleiben im Käfig, und das Publikum bleibt reiner Beobachter, in gleichgültigem Jubel für das Tier, das vergleichsweise am talentiertesten scheint. In solch einem Zirkus gibt es aber nun einmal kein Dissidententum, niemanden, der für die Freiheit jubelt, sondern nur brave Tierchen, die nach den Regeln des alten Direktors springen, um den meisten Jubel zu ernten. 


Drum ist die AfD nicht geeigneter als die Linke, ein freiheitliches Deutschland zu errichten. Ja, ich möchte so weit gehen, zu behaupten, dass Freiheit nicht errichtet werden kann. Man kann sie nur säen. Und da fängt das wahre Dissidententum heute an. In den kleinen Samen, die jeden Tag von freiheitlich gesinnten Menschen ausgestreut werden, an die Zeitungskioske dieses Landes, auf Blogs oder Youtube-Kanäle. Es sind die Bücher, die geschrieben und die Reden, die gehalten werden, jedes Gespräch auf der Straße mit einem glühenden Che-Guevara-Fan und jede Unterredung mit dem nationalsozialistischen Großvater ist ein Schritt in Richtung einer freien Gesellschaft.


Denn freiheitliches Denken und Handeln kann nicht implementiert werden durch Gesetze und Vorschriften. Weder das Kürzen der Sozialleistungen, noch das Deregulieren von Vorschriften für Unternehmer kann den Willen zu einer freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung schaffen. Die einzige Möglichkeit, wie heute Opposition gegen die Diktatur der Masse geprobt werden kann, ist: den Willen zur Masse, zum Kollektiv, aufzuweichen. Das Gedankengut des Individualismus, der Selbstverantwortung und des freien Handelns muss von unten an die Gesellschaft herangetragen werden. Freiheit muss in den Köpfen wachsen, um das Machtmonopol der Polemik und der Prinzipienlosigkeit zu erschüttern.


Und drum ist der Dissident heute jener, der nicht im Zirkus sitzt und klatscht, wenn die Kunststücke vollführt werden, sondern jener, der in der Zeit lieber Flugblätter für die Besucher verfasst, die eine Welt ohne Zirkuszelt und Gitterstäbe illustrieren.


eigentümlich frei Ausgabe 200

Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der März-Ausgabe 2021 eigentümlich frei Nr.200.