Fabian Hartje

Mein Wort und mein Unwort des jungen Jahrtausends

Triggerwarnung und Demokratie-Untauglichkeit

Siegerbeitrag zum ef-Jungautorenwettbewerb 2023


von Fabian Hartje


A. Prolog

Die Auswahl an Unwörtern in diesem Jahrtausend ist wohl größer als das erschaffene Schreckgespenst namens Angst, das manchen von ihnen angekettet worden ist. Ein nicht greifbarer Geist – sichtbar alle Male –, der seit Dekaden mit der Urgewalt eines Orkanes Wörter der Furcht über die Gesellschaft haucht. Ein letzter Tropfen Spaß könnte diesem Treiben wohl nur noch abgewonnen werden, ordnete man die Geburtsstunden der mittlerweile zahlreichen Chimären in einer Partie Anno Domini.

Die erbitterten zwischenmenschlichen Schlachten auf dem Rücken der Wahrnehmung rühren dabei hauptsächlich aus einem Perspektiv-Problem, das, ausgelöst durch die Phantome der Angst, die Gemüter kontrollierend die Gesellschaft spaltet. Jeder Einzelne scheint gefangen in starr definierten Begriffen, festgefahrenen Perspektiven, in der erlebten oder eingeredeten Wahrnehmung. So entsteht aus dem Perspektiv- ein Kommunikations-Problem, dem jede gut meinende Diskussion erliegen.

Ausgenommen weniger Zivilisationsfeinde streben die Mitglieder der Gesellschaft doch im Grunde nach Identischem: einer friedvollen, prosperierenden, kultivierten Gesellschaft. Nur sind die Vorstellungen aufgrund divergierender Wahrnehmungen und Perspektiven verschieden. Mit emotionalisierten und angstgetriebenen Menschen brauchen Sie nicht über eine Sache zu debattieren – Sie müssen Ihnen erst die Angst nehmen, damit sie wieder frei zu denken imstande sind.

But now to the topic:

B. Mein Unwort des jungen Jahrtausends

Früher äußerte der Autor an solch einer Stelle wohl den Ausdruck Captatio Benevolentiae – heute spuckt man die Floskel Triggerwarnung!

Die folgenden Absätze beinhalten Absichtsprovokationen, Body Shaming, Diffamierung und Diskriminierung, Personenhetze und Sarkasmus.

Now let the trash talk begin:

Machen Sie es sich bequem – auf dem rundgesessenen Propaganda-Bewacher oder der von Schwiegermutter geerbten Plastikgarnitur im eingezwängten Reihenhaus-Vorstadtgartenstrich. Öffnen Sie sich ein paar Jever (diese Weser-Plörre) – ob nun 25 oder 30 Kilogramm Übergewicht macht dann auch keinen Unterschied mehr. Ach ja, morgen haben Sie wieder Ihr Sektionstreffen/Ihren Stammtisch zur gegenseitigen Befriedigungsorgie aus Empörungsgestöhne einer Handvoll unzufriedener Hochblutdruck-Wutbürger. Und in zehn Tagen vergessen Sie nicht die nächste Vergnügungsveranstaltung, auf der Sie sich wieder vom inhaltsleeren Geschwafel eines Marc Friedrichs berieseln lassen.
Aber Gott sei Dank gehören Sie nicht zu den Lemmingen des Mainstreams. Nein, nein – Sie sind aufgewacht und aufgeklärt. Ein besserer Mensch. Gar ein Vorbild. Ein ernst zu nehmendes Individuum – mit Panama-Hut im Unkrautbeet einer Waldhütte hockend, den Dampf verbrennender halluzinogener Pilze einatmend. Nun gut, in so einem Szenario kommt man dann auch vielleicht auf die Idee, das Königreich Deutschland zu gründen.
Anyway, back to the topic:
Des Beispiels und der kritischen Anmerkung Genüge – warum ist Triggerwarnung mein Unwort des jungen Jahrtausends?

Im Umfeld einer woken Gesellschaft, in der sich jeder so verhalten soll, wie er/sie/es/gestört*innen sich gerade fühlt, sind Anstand, Respekt und Disziplin im Abwärtstrend. Hervorgebracht werden hypersensible Schneeflocken, die – bevor sie ein Buch aufschlagen – bitte per Triggerwarnung vor dem Verkehrsunfall auf Seite 304 gewarnt werden müssen (Website von Mandy Domke). Der Leser könnte ja an einem schweren Kindheitstrauma leiden. Der Arme. Da nehmen wir als Gesellschaft jetzt aber bitte schön gemeinsam und geschlossen Rücksicht drauf. Das Thema ist ernst. Bündnis gegen Rächts. Ähhhhh – gegen Verkehrsunfalltrigger natürlich. Mein Fehler.


Ob es schon eine Petition für das Streichen aller Verkehrsunfälle aus Bildungsmaterialien und dem öffentlichen Unterhaltungsprogramm gibt? Das ist schließlich „extremely offensive“ und rücksichtslos gegenüber den Traumatisierten! Sind die Ihnen etwa egal? Nazi!


Durch diese vermeintlich übersoziale Rücksichtname wird jedes beliebige Thema zum gesellschaftlichen No-Go. Aus dem guten Willen der Achtsamkeit wird schließlich ein selbstauslösendes Maschinengewehr der Cancel Culture.


Sie sehen: Die Hypersensibilisierung der jungen Generation gegenüber allem und jedem ist Hauptschuldige im Verfahren um den Niedergang der Zivilisation. Ausdruck dieses Wahns ist die Triggerwarnung vor jedem Krümel, der auf dem Regenbogen-Boulevard der links-grünen Woke-Gesellschaft liegt. Eine Gesellschaft ohne Grundpfeiler, ohne Resilienz und frei von Standards – aber voll von Triggerwarnungen.


C. Mein Wort des jungen Jahrtausends


Doch wir leben in glorreichen Zeiten! (Ein Dank gebührt Arno B. – Namensgeber dieser Metapher.) Schauen Sie sich um und sagen Sie es einmal schmunzelnd vor sich her: Glorreiche Zeiten. Es hebt die Laune um mindestens 50 Prozentpunkte. Egal, was zurzeit an Wahn- und Irrsinn durch die (Noch-) Zivilisation geistert, es reiht sich mühelos ein in eine schier endlose Aufzählung einzigartiger Momente dieser goldenen Epoche. In jüngster Vergangenheit brach wieder ein solches Juwel aus den dunkelsten Minen der freiheitlich demokratischen Grundordnung heraus: die Demokratie-Tauglichkeit!


Ja, sehr verehrte Damen und Herren, Sie haben richtig gelesen. Und am besten hinterfragen Sie sich zuallererst einmal selbst. Sind Sie demokratietauglich? Denn wenn nicht, dann empfehle ich Ihnen ganz schnell eine Selbsteinweisung in eine Umerziehungsanstalt. Alternativ konsumieren Sie einfach 24/7 Funk und Konsorten – das dürfte Sie heilen.


Aber nun Spaß beiseite – was für eine geniale Wortkreation: Demokratie-Tauglichkeit. Ab heute müssen Sie von Ihren Nachbarn gar nicht mehr als XY-Leugner oder -Verschwörer bezeichnet werden. Nein, nein – nun geht es viel eleganter. Es wird einfach objektiv festgestellt, dass Sie demokratieuntauglich sind. Da kann man dann auch nichts mehr für Sie machen; das haben Sie sich selbst eingebrockt.


Doch warum ist diese Melioration nun mein Wort des jungen Jahrtausends?


Diese beiden Unwörter miteinander vereint, verdeutlichen uns das Wichtigste, das es in dieser Zeit zu beherzigen gilt: Humor! Als Ausdruck einer nicht mehr übertreffbaren Realsatire ist mein Wort des jungen Jahrtausends also Platzhalter für den Humor, mit dem wir uns verstärkter denn je umgeben müssen. Sowohl das Schimpfwort Demokratie – Synonym für Verantwortungslosigkeit, Kollektivwahn und Versagenswille – als auch die anmaßende Überheblichkeit einer Tauglichkeitsüberprüfung – Ausdruck des wahngewordenen Gutmenschen, der sich als bunte Fee (weißer Ritter wäre wohl „offensive“) des Regenbogenlandes dazu berufen fühlt, über das Sein zu richten – sind doch Unwörter der Extraklasse. Demokratie-Untauglichkeit jedoch ist ab sofort ein Attribut der Menschlichkeit, des Fortschrittes und der Freiheit.


D. Epilog


Es gibt keinen Grund, missmutig auf das Jetzt oder das Morgen zu blicken. Die Welt ist wundervoll. Nie gab es mehr Möglichkeiten – für jeden von uns. Nie in der Geschichte der Menschheit hatte der Einzelne – so unbedeutend und irrelevant er auch für das Gesamtgeschehen ist – so viele Chancen auf freie Entfaltung.


Chaos, Unrecht und Niedergang waren stets Teil des zivilisatorischen Daseins und sind keine Ausnahme unserer Dekaden. Schon Dante – in der Toskana eine politische Umbruchzeit erlebend – prangerte im anfänglichen 14. Jahrhundert die Zersetzung des Gemeinwesens an; fragte sich, warum die guten alten Sitten verkamen. Nach seiner politisch motivierten Verbannung aus Florenz verkümmerte Dante jedoch nicht an Selbstmitleid und Bestürzung über die Ungerechtigkeiten, sondern schuf mit der Komödie ein literarisches Werk im Ausmaß der Metamorphosen Ovids.

Schaffen Sie Distanz zwischen sich und allem Missmutigen, allem Unrecht und allem Bestürzenden! Wenden Sie sich den unfassbaren Möglichkeiten zu, die sich heute und morgen eröffnen. Schaffen Sie sich ein freies, unabhängiges und resilientes Umfeld. Und verlieren Sie niemals Humor und Leichtigkeit.


„Life is a bitch, then you die / was empörst du dich so viel?“ (Kollegah)


eigentümlich frei Ausgabe 239

Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der Jan./Feb.-Ausgabe 2024 eigentümlich frei Nr.239.