Florian Müller

Selbstschutz und Freiheit

Der verwischende Unterschied: Über die großen Kleinigkeiten des Lebens

Siegerbeitrag zum ef-Jungautorenwettbewerb 2017


von Florian Müller


Der deutsche Staat, ebenso wie die meisten „liberalen" Demokratien, greift seit Jahrzehnten immer weiter in die Freiheiten der Menschen ein. Unter dem Deckmantel der „Sicherheit" schützt der Leviathan den unmündigen Bürger vor seiner eigenen Dummheit.


Aus purer Nächstenliebe? Keineswegs. Aus Gründen ökonomischer Kalkulation überschreitet der Tagwächterstaat seine Kompetenzen und greift direkt in die Köpfe der Bürger. Pflicht eines Staates sollte es sein, die Bürger vor anderen Bürgern zu schützen, nicht die Bürger vor sich selbst. Überschreitet er diese sakrosankte Linie, kann man von einem neuen Niveau der Kontrolle sprechen.


Ein einschneidender Wegpunkt, der unter vielen hier hervorgehoben werden kann, war die Anschnallpflicht für Autofahrer. Als hätte ein Staat nichts Besseres zu tun, als seine mündigen Bürger, immerhin muss man zur Bedienung einer derartigen Maschine die Volljährigkeit erlangt haben, zu zwingen, sich selbst gegen die Gefahren eines ungesicherten Unfalls zu schützen. Wenigstens waren die Initiatoren Ende der 70er Jahre noch so ehrlich und schoben es nicht in pseudomäßiger Mutter-Theresa-Manier auf die Fürsorge um die armen Bürger, sondern gaben schlicht und einfach zu, dass die Gesetzesnovelle wirtschaftliche Gründe hatte. Die Kosten bei Unfällen, Verletzungen und Arbeitsausfällen wären für Krankenkassen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu hoch. Als Gurt und Gurtpflicht langsam aufkamen, war die gesellschaftliche Reaktion enorm, die Autofahrer empört. Das mündige Volk stellte sich gegen den anmaßenden Schritt des Staates und kämpfte für seine Freiheit. Ein Prozess, den man heute schwerlich nachvollziehen kann.


Dafür gibt es vielerlei Erklärungen, die nicht alle aufgeführt werden sollen. Bedeutend aber, so meine Sicht der Dinge, für den fehlenden Aufschrei deutscher, aber auch europäischer Bürger, ist das langsam abhanden gekommene Gefühl wirklicher Freiheit. Erstens wurden wir seit Jahrzehnten an den „Freiheitsentzug" gewöhnt, daher schmerzen solche kleinen Nadelstiche schon lange nicht mehr. Zweitens sind wir durch Medien und Gesellschaft ängstlich gemacht geworden. Das treibt dann solche Blüten wie die Ermahnung zum Stillstehen beim Zähneputzen. Die Gefahr, zu stolpern und sich mit einer Zahnbürste zu verletzen, ist zwar nicht hoch, aber vorhanden. Das hat man irgendwo mal gelesen, erzählt bekommen, und es gibt nicht wenige Leute, die sich am Waschbecken festkrallen. Wir sind weich geworden, lieben die Sicherheit und wollen mit 90 Jahren glücklich einschlafen. Dafür nehmen wir alles in Kauf. Lebenszeitreduzierende Säbelzahntiger gibt es schon lange nicht mehr, dafür münzen wir unsere Urinstinkte auf andere Sachen um: Terrorismus, Krieg, Autofahren, Fliegen, Rauchen, Trinken, Sport, zu wenig Schlaf, zu viel Schlaf, freie Radikale, tierische Fette, Cholesterinspiegel, Brandkatastrophen, nasse Haare, oder eben Zahnbürsten.


Hat man trotz eigentlich gezogener, aber regelmäßig medizinisch gereinigter Zähne und geschnittener Klauen das Gefühl eines beklemmenden Verlustes von Entscheidungsoptionen und freier Macht über sein eigenes Leben, erscheint regelmäßig ein staatlicher Engel (oder doch der Teufel?) in Form eines typischen Bekannten oder Freundes im eigenen Umfeld. Nennen wir ihn Jürgen. Jeder kennt Jürgen. Jürgen hat ein Kind, weil er Angst hat, ein zweites nicht richtig versorgen zu können. Er verdient mit seiner Frau ungefähr 3.000 Euro und lebt in einem geerbten Eigenheim und kann seine Zusatzversicherungen nicht an beiden Händen abzählen. Aber genug von seinem Leben. Betrachten wir, wie er seinem Umfeld das letzte bisschen Freiheit madig macht.


„Schnall dich bitte an", ertönt zum zweiten Mal die quakende Stimme des Gewissens in Form eines Mittdreißigers auf dem Beifahrersitz und ersetzt das fehlende Warngeräusch des Autos. Dieses moderne Piepen, das nach genau 20 Stundenkilometern ertönt, wenn sich einer der Insassen nicht angeschnallt hat. Jeder, der ein neueres Auto sein Eigen nennt, kennt die Situation: „Ach, ich fahr gerade ins Dorf Brötchen kau..." PLING „So weit ist das doch gar..." PLING „Die paar Meter brauch ich doch wirklich nicht..." PLING „Schon gut, Auto, ich schnall mich ja an." Hier sieht man, wie ein erwachsener Mann sich von einer ihm gehorchenden Maschine sowie suprastaatlichen Zwangsregularien diktieren lässt, was er zu tun oder zu lassen hat. Kleiner Exkurs: Seit dem 13. Februar 2014 ist der sogenannte Seat-Belt-Reminder, der einen an das Anschnallen „erinnern" soll, bei allen Neuzulassungen verpflichtend. In ungefähr zehn oder 15 Jahren piepen dann alle Autos bei „lebensmüden" Fahrern munter durch die Gegend. Beim Mechaniker meines Vertrauens ließ ich meinen penetranten Piepton abschalten.


Jürgen weiß davon natürlich nichts. Er denkt, das Auto hätte keinen. Deshalb übernimmt er die mahnende Aufgabe. Ich grinse kurz, in dem Gefühl, ihn überlistet zu haben, und schnalle mich an. Zufrieden grinst er, in dem Gefühl, mein Leben gerettet zu haben, und schweigt. Vor einigen Wochen, als in der Werkstatt das nervige Signal abgeschaltet wurde, fuhr ich abends Zigaretten kaufen. Unangeschnallt! Es fühlte sich an wie ein kleiner Sieg über den staatlichen Zwang. Ich nahm mir etwas zurück, was rechtens mir gehört, von dem man nicht gemerkt hat, wie es langsam verschwand. Ich fühlte mich gut. Als ich aber beim Genuss des Glimmstengels darüber nachdachte, welch grotesken Pyrrhussieg ich errungen hatte, war die Freude schnell vorbei.


Ja, ich rauche. Heutzutage ist das exotisch, geradezu museal. Und schadet meiner Gesundheit. Ich weiß das, seit ich zehn Jahre alt bin. Niemand muss mehr auf „die Gefahren des Rauchens hingewiesen werden", wie das so schön heißt. Das kommt mit der Muttermilch und der Schulbildung. In der vierten Klasse kam ein externer Sucht- und Drogenberater in unsere Grundschule. Er wies uns auf die Gefahren des Tabakkonsums hin, in einem Atemzug mit Bier, Schnaps, Kokain, Heroin, Spielsucht. Diese Stoffe lauern hinter jeder Ecke. Das volle Programm. Er klebte dem Leben das Etikett „gefährlich" auf. Ich kann mich noch genau daran erinnern, obwohl das größte Problem eines Zehnjährigen eigentlich der komplizierte Tausch der wertvollen Karten eines Schulhofsammelspiels sein sollte. Nach der Pause kam der Mann mit Anzug in die Klasse und projizierte die Angst vor Süchten in unsere kindlichen Köpfe. Geklappt hat das bei mir nicht. Bei Jürgen schon.


„Willst du nicht endlich aufhören, dich Stück für Stück umzubringen", fragt er beim Genuss eines kleinen Radlers über 20 Jahre später. Mein Weißbier schmeckt in köstlicher Abwechslung mit einem Zug an der frisch angezündeten Zigarette. Wir frieren. In der Kneipe wird geraucht, sowas geht für Jürgen gar nicht, also sitzen wir im Herbst auf der Terrasse. Er macht weiter: „Und erst diese schrecklichen, neuen Bilder. Du solltest froh sein, dass der Staat euch das Rauchen abgewöhnen will." Meine Fingerknöchel treten weiß hervor. In Sekundenbruchteilen überlege ich, das Glas entweder in einem herkulischen Akt zu zerdrücken oder ihm ins Gesicht zu schleudern. Wir kennen uns ewig, eigentlich ist er ein feiner Kerl. Ich ziehe an der Zigarette und rette ihm dadurch das Leben. Zumindest seine Gesundheit.


Vergangene Woche waren wir mit unseren Frauen aus. Sybille, Jürgens Frau, ist Vegetarierin. Es interessiert mich schlicht und einfach nicht, aber jeder, der einen Vegetarier kennt, weiß, dass dieses Thema so hartnäckig ist wie Schnupfen im Winter. Gerade hat man nach einigen Bieren die Vorzüge und Nachteile auf den Tisch gebracht und das Thema abgeschlossen, mit den restliberalen Worten: „Jeder muss selbst wissen, wie er lebt." Dann fragt ein Depp so etwas wie: „Warum trinkst du dann Milch?" Oder: „Ich könnte auf Fleisch niemals verzichten!" Und schon geht das Thema von vorne los. Es nervt, und es ist mir egal, was andere Leute essen. Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als Sybilles Salat so laut knackt, dass der Nachbartisch bestätigen kann, wie frisch das Essen in diesem Restaurant ist. Ohnehin hat Sybille es schon dreimal laut ausgesprochen, aber die akustische Untermalung festigt die Werbung für die grünen Blätter.


Wir sitzen in einem vegetarischen Restaurant. Ich wollte absagen und behaupten, dass ich durch Krankheit ans Bett gefesselt bin, aber meine Frau überzeugte mich schließlich: „Einmal kannst du auch in ein vegetarisches Restaurant gehen. Immer mit deinen Schnitzeln." Ich füge mich, fühle mich entmannt. All das geht mir durch den Kopf, als der Salat so vor sich hinknackt. Statt dass Sybille einen „crossen Soja-Auflauf mit würziger Avocado und Bio-Aubergine" isst, nimmt sie sich einen Sommersalat. Nicht nur, dass es Herbst ist – das Ding gibt es in jedem Schnitzelrestaurant. Vielleicht nicht ganz so knackig, aber das interessiert mich nicht. Dafür muss man nicht in das fleischlose Szenerestaurant mit Bio-Siegel und drei Fleischessern seine eigene Lebensphilosophie aufdrücken. Meine Frau spürt den Unmut und tritt mich unterm Tisch. Jürgen macht gute Miene zu seinem Kartoffelgratin für 8,90 Euro, und ich mahle auf meinem Veggie-Schnitzel, das mir vom Kellner empfohlen wurde. Es schmeckt scheiße, und ich verfluche mich, offen für Neues zu sein.


„Fleisch ist so ungesund. Ich habe letztens noch gelesen, dass immer mehr Darmkrebserkrankungen auftauchen. Durch rotes Fleisch. Das stand in einer dieser Studien", sagt Sybille pikiert, als ich mit einem „ganz okay" auf die Frage nach dem Geschmack meines Gummi-Schnitzels antworte. Auch das ist mir egal. Befasst man sich mit solchen Studien intensiver, erkennt man schnell, dass viel heiße Luft dahinter steckt. Ein Beispiel: Sagen wir, dass Fleisch das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, von einem Prozent auf zwei Prozent hebt. Dann steht in einer Überschrift: „Darmkrebs-Risiko durch Fleischkonsum um 100 Prozent gestiegen." Aber das interessiert niemanden. Nach dem Essen rauche ich draußen. Alleine. Es ist kalt, dunkel, der Wind pfeift, und kein Hund ist vor der Tür. Ein fremder Mann stellt sich zu mir unter den überdimensionierten Heizpilz. Wir grinsen uns an wie Verschwörer, die etwas Verbotenes tun. Wie ein Attentat auf Hitler, die Französische Revolution, die geplante Explosion eines Londoner Parlaments oder eben, im Jahr 2016 zu rauchen.


Ich überstehe den Abend. Auf dem Heimweg hakt sich meine Frau bei mir unter, und wir gehen in eine Currywurst-Bude am Rande der Stadt. Endlich werde ich satt. Als das rote Fleisch meinen Körper passiert und mein Darmkrebsrisiko um gefühlte 0,034 Prozent hebt, denke ich über all das nach. Freiheit gibt es nicht als Ganzes. Es ist ein langwieriger Prozess, in dem man jeden Tag kämpfen muss. Im 21. Jahrhundert scheint der Staat das Spiel zu gewinnen, was ja nicht heißt, dass man sich nicht dagegen sträuben könnte. Und dieser Kampf fängt beim Gurtzwang an, geht über geplante Veggie-Days, abgestorbene Zehen auf den Zigarettenpackungen und gesundheitliche Schreckensmeldungen bei cholesterinhaltigem Essen und hört wohl erst auf, wenn man wirklich unter der Erde liegt. Es geht eben nicht nur um die ganz großen Schlagworte der Freiheit, wie beispielsweise Berufswahl, Wahlrecht oder Partnerwahl, sondern um die Kleinigkeiten, die einem im täglichen Leben begegnen. Ich gehe ins Schlafzimmer. An der Decke blinkt ein kleines rotes Licht. Piep. Die Batterie des Feuermelders ist schwach. Piep. Ich seufze und schlafe ein.


eigentümlich frei Ausgabe 168

Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der Dezember-Ausgabe 2016 eigentümlich frei Nr.168.