Svenja Laging

Ich in 25 Jahren: Meine ökonomische Zukunftsperspektive

Post aus Deutschland

Siegerbeitrag zum ef-Jungautorenwettbewerb 2022


von Svenja Laging


Schlecht gelaunt komme ich nach Hause. Ein Zusammentreffen mit meiner sozialdemokratischen Familie war erneut in eine erbitterte Diskussion ausgeartet. Ich will nicht sagen, dass ich unschuldig bin. Das Kaffeekränzchen bei den Großeltern erwies sich nicht zum ersten Mal als schlechtes Setting, um ein Gespräch über Waffenrechte zu beginnen. 


Der Ausgang war dementsprechend absehbar. Ein Aspekt der Unterhaltung will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen, und je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger dumm erscheint er mir. „Wenn es dir hier in Deutschland nicht gefällt, warum wanderst du nicht einfach aus?“ Das hatte mich meine Großmutter gefragt. Diese Frage ist mir gut bekannt. Jeder, der etwas ändern möchte, kennt sie. Das ist eigentlich keine schlechte Idee. Mittlerweile bin ich an einem Punkt, an dem ich an der ganzen Zukunftsplanerei nicht mehr vorbeikomme. Ich bin jetzt 19 Jahre alt und brauche dringend eine gute Strategie, um für meinen Lebenserhalt zu sorgen. Aber in Deutschland? 


Zugegeben, sie nehmen einem hier viel Arbeit ab, indem sie sich um den Verbleib von knapp der Hälfte deines Gehaltes kümmern. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung scheint für diese Dienstleistung auch sehr dankbar zu sein, aber für mich ist das irgendwie nichts. Zeitgleich sehe ich die wirtschaftliche und persönliche Freiheit der Menschen schwinden und die Wirtschaft verkümmern. Es ist nicht schwer, sich auszumalen, wie es hier in 25 Jahren aussehen wird. Und wohin jetzt mit mir? Ich habe folgende Kriterien herausgearbeitet: maritim, südlich, nicht zu warm, unbesiedelt, ohne Staat und weniger lebensfeindlich als die BRD. Meine Entscheidung treffe ich ganz einfach per Ausschlussverfahren. Man dürfte es schon erraten haben: Ich werde in die Antarktis ziehen.


Eine Woche ist diese zündende Idee nun schon her. Dank der schnellen Lieferung von Amazon Prime steht der Großteil meiner Ausrüstung schon seit Tagen im Hausflur bereit: das Schlauchboot, der Überlebensanzug, das Dosenbrot und alle möglichen kleinen Helferlein wie die mechanisch aufladbare Taschenlampe. Weil Sommer ist, herrschen milde Temperaturen von null Grad Celsius in der Antarktis. Der Flug nach Argentinien ist gebucht, alle Unterhosen sind gewaschen und in meiner Handtasche befinden sich ein frisch gebackener Kuchen und eine Flasche Rotwein. Als ich in den Flieger steige, weiß ich, dass ich die Sonne ein letztes Mal über Hamburg untergehen sehe, aber es macht mir nichts. Ich bin jung und der Schmerz der Endgültigkeit sitzt noch nicht sehr tief. In Argentinien werde ich in ein kleineres Flugzeug umsteigen, vermutlich voll mit argentinischen Meeresbiologen und Pinguinforschern. Schon morgen Abend bin ich in der Antarktis.


Ich komme an und schaue mich um. Keine Bäume, kein Grashalm und keine Menschenseele in Sicht, nur Schnee und an der Küste ein grober Steinstrand, die Küste ist im Sommer nämlich abgetaut. Die Forscher, neben denen ich eben noch im Flugzeug saß, sind alle in ein Schlauchboot gestiegen und weggefahren. Aber das ist mir nur recht. Sie hatten eine Menge über den Klimawandel und irgendwelche bedrohten Algenarten geredet, was mich in einen norddeutschen Bioladen zurückversetzt hatte. Ich hocke mich ans Wasser und öffne die Flasche Wein, flitsche ein paar Steine über die sehr ruhige Wasseroberfläche und genieße die Ruhe. Der Kuchen schmeckt ausgezeichnet, und als es mir dann irgendwann doch zu ruhig wird, hole ich meinen MP3-Player raus und tanze, bis ich müde genug bin, um in meinen Schlafsack zu kriechen und tief und fest einzuschlafen.


Ein paar Tage sind nun vergangen, und ich werde mir bewusst, dass ich die letzten 19 Jahre nur durch die Anwesenheit von Zivilisation und Gesellschaft überleben konnte. Ich denke an prall gefüllte Supermärkte und was für ein Wunder der Marktwirtschaft sie doch sind. Aber ohne Menschen kein Markt. Das ist der Moment, in dem ich anfange, Kontakt zu meinen Nachbarn, den Kehlstreifpinguinen zu suchen. 


Sehr bald fällt mir auf, dass sie den Menschen um einiges überlegen sind. Besonders beeindruckt mich ihre vehemente Ablehnung des Euro als Zahlungsmittel. Dem Fünf-Euro-Schein, den ich ihnen im Austausch gegen einen Fisch bot, schenkten sie kaum Beachtung. Bei dem Wertverlust wundert mich das wenig; die kleinen Kerlchen haben begriffen, dass sich der Wert eines Antarktisdorsches um Längen stabiler hält als der des Euro. Zum Glück bin ich ein Mensch und habe mehr anzubieten als ein aufgeweichtes Stück Papier. Also zeige ich ihnen das Feuer. Ich weiß, unter dem Gesichtspunkt des Klimawandels ist das schwer vertretbar, aber es ist ja niemand da, um mir eine Moralpredigt zu halten. Überhaupt stelle ich fest, dass das, was unter den Menschen als Moral gilt, überwiegend ausgedacht sein muss. Hier am Südpol gelten einfache Regeln, wie das gegenseitige Achten von körperlicher Unversehrtheit und Eigentum. Tust du mir nichts, tue ich dir auch nichts. 


Durch meine Prägung war es mir anfangs sehr unangenehm, die Männlein nicht von den Weiblein unterscheiden zu können. Ich umging deswegen umständlich die direkte Anrede. Mittlerweile ist mir klar, dass sie hier keinen Wert auf so was legen. Tatsächlich scheinen sie gar nicht zu verstehen, was ich sage, weswegen ich es mir angewöhnt habe, nur noch in politisch unkorrekten Schimpfwörtern mit ihnen zu reden. Am liebsten verbringe ich meine Tage bei den Jungtieren, denn hier ist es sehr warm und gemütlich, und die Erwachsenen kommen in regelmäßigen Abständen von der Jagd zurück und würgen mir halb verdauten Fisch in den Mund. Nichts gegen halb verdauten Fisch, er ist wirklich sehr nahrhaft, aber eines schönen Morgens entschließe ich mich dazu, selbst mit auf Jagd zu kommen. Ich blase mein Schlauchboot auf, krame die Einzelteile meines Teleskop-Keschers aus der Tasche und ziehe meinen Überlebensanzug an. Das ist ein Anzug, mit dem man bis zu sechs Stunden im eisigen Antarktis-Wasser überleben kann. Die Sonne geht grade auf, und ich befinde mich mit meinem Boot schon um die 150 Meter von der Küste entfernt und halte meinen Kescher ins Wasser. Ich fühle mich wunderbar – in etwa so, wie der erste und der letzte Mensch gleichzeitig. Plötzlich steigen neben dem Heck des Bootes kleine und dann immer größer werdende Luftbläschen an die Wasseroberfläche. Ein Leck. Ehe ich michs versehe, muss ich schwimmen. 


Ich versuche, ans Land zu gelangen, aber das ist mittlerweile kaum noch zu erkennen und die Strömung zieht mich immer weiter Richtung Horizont. Ich gebe auf und lasse mich treiben. Der Himmel ist blau und in meinem Kopf läuft mein Lieblingslied. Ich schaffe es, zu entspannen und mein Schicksal zu akzeptieren.


Es muss einige Stunden später sein, ich bin kurz davor, mein Bewusstsein zu verlieren, da sehe ich ein kleines gelbes Boot Kurs auf mich nehmen. Ich spüre, wie ich an Bord gezogen werde und blicke in das Gesicht eines Mannes. Er trägt ein gelbes Polo-Hemd und hält eine braune Ledertasche in der Hand. „Endlich habe ich Sie gefunden, ich habe einen Brief für Sie. Es ist dringend!“, sagt der Mann mit der Ledertasche. Er hält mir einen Brief vor die Nase, er ist also ein Postbote. Ich bewundere den Einsatz der Deutschen Post und nehme den Brief entgegen. Als ich den Absender auf dem Umschlag lese, kehrt ein Gefühl der Ablehnung, wie ich es seit Wochen nicht verspürt habe, in meinen Körper zurück. 


Augenscheinlich hatte der GEZ-Beitragsservice meinen neuen Wohnort ausfindig gemacht. Wie sie das geschafft haben, weiß ich nicht. Dass ich in meinem neuen Zuhause weder ZDF noch ARD empfange, scheint auch nur eine nebensächliche Rolle zu spielen. Ich weiß nur eins: Ich muss wieder von Bord gehen. Ich entere das Rettungsboot, durchtrenne die Seile mit einem Messer und nehme Kurs in Richtung Land. Es ist bereits dunkel, als die Lagerfeuer der Pinguine an der Küste vor mir auftauchen. Erneut denke ich über meine Zukunft nach und darüber, wie es in Deutschland in 25 Jahren wohl aussehen wird. Ich weiß es nicht. Eins weiß ich aber sicher: Mich sehen die nie wieder.


eigentümlich frei Ausgabe 215

Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der Aug./Sep.-Ausgabe 2021 eigentümlich frei Nr.215.